
Leben und Alltag schwerelos
kernwärts umrunden
Lyrik öffnet einen Raum, in dem ich die großen Fragen des Lebens mit meinem normalen Alltag verbinden kann. Lyrik lesen und schreiben bringt mich zur Ruhe, schafft Distanz und neue Klarheit, schenkt Freude im Spiel mit Reduktion, Assoziationen, Klang und Rhythmus und dem ganzen Reichtum sprachlicher Möglichkeiten. Dem nachzuspüren, was mich existentiell berührt, ist eine geheimnisvolle Reise entlang der Grenzen von Worten, näher zum Kern von Wirklichkeit, der mitten im eiligen Leben schlummert.
“Worte kreisen Wirklichkeit ein … sagst du und legst ihre Grenzen … auf unseren Lippen zu schwingenden Brücken”
warum Lyrik?
Gedichte verdichten
die Reise zum
Date mit sich selbst
Distanz weicht
Kontakt im
verdichteten Licht
roter Faden jedem
eigene Antwort wie
keine zweite Liebe
auf die Frage:
wer bin ich, und
wozu das Ganze?
Aus: “Kontakt - Gedichte und Kladden”. Echter (2021) S. 9
Pfeilgift und Leben
gestern haben wir in der
Diskussion ein Kind geboren
die Worte schon in alle
Richtungen davon
ihr Gewicht nicht mehr
zu leichtern
es hängt bereits an den Dorn-
fortsätzen nächster Herzen
Worte sind nie nur Worte
nicht mal im Spiel
außer neutrale -
die toten
Aus: “Kontakt - Gedichte und Kladden”. Echter (2021) S. 95
Dem nachzuspüren, was uns berührt, ist eine Art Pilgern, ein besonderes Unterwegssein. Dazu braucht es nichts als Aufmerksamkeit für das Hier und Jetzt, so wie es ist, mitten im eigenen Alltag.
Gegliedert in acht Themenkreise, inspiriert der Gedichtband “Kontakt”, das eigene Leben als eine solche Wahrnehmungsreise zu verstehen und zu feiern.
was schafft Verbindung?
die leere Hand
offen gelegt
würde genügen
und ich doch
was ich fürchte
die innere Armut
die Lauheit durchs Leben
den Bruch
in allem
nicht länger verbergen
Aus: “Kontakt - Gedichte und Kladden”. Echter (2021) S. 19
Barbara Dietz-Stilli
geb. 1968, lic.phil.I Anglistik, Pädagogik und Theologie (Universität Zürich)
Magisterarbeit: “Anthropological Dimensions in T.S.Eliot’s Poetry”
Seit 2008 auf dem kontemplativen Weg.
leichtes Gepäck
an der Quelle
kein Haschen noch Horten von Glück
nach dem Jesus-Wort
weder Taschen noch Zweitgewand nötig
wenn auf der Reise alles
Gefäß zum Empfangen ist
Aus: “Kontakt - Gedichte und Kladden”. Echter (2021) S. 56
an der Kreuzung
da wo die Taube fliegt
gehe
da wo sich Frieden
in dir lagert über den
Wellen des Aber-
Meers
Aus: “Kontakt - Gedichte und Kladden”. Echter (2021) S. 58
Gnade
Die junge Frau an der Kasse
vom McDonald Drive-in
blickt verständnislos:
„Wie bitte?“
„Ja, ich möchte auch
für das Auto hinter uns
die Rechnung bezahlen —
Nein, wir kennen uns nicht.“
Beim Wegfahren sind
die Kinder ganz elektrisch:
Ob sie uns nachfahren
uns gar verfolgen werden?
Plötzlich ist der Alltag
wieder ein kleines
Abenteuer
mitten im Leben
das keiner verdient hat
und doch jeder täglich
umsonst
geschenkt bekommt
Aus: “Kontakt - Gedichte und Kladden”. Echter (2021) S. 28
zählen
der eine zählt Gummibärchen
bis der Gottesdienst zu Ende ist
die andere zählt Zigarettenpausen
bis der Tag zu Ende ist
der dritte zählt sein Geld nach der Rente
oder den Erfolg in Rang und Ruhm
ich zähle
Eichhörnchen
seit vor Jahren
eines davon
während des Betens
so an die Terrassentür trommelte
als wollte es das Fenster zertrümmern
das zwischen uns stand
um das Besondere mit uns zu teilen
das eben im Raum geschah
Aus: “Kontakt - Gedichte und Kladden”. Echter (2021) S. 30
zwischen uns ist mehr
Gestern Abend bei Kerzenschein und schwarzem Tee bat ich ihn, mir vorzulesen von dem, was ihn bewegt, er griff zur aktuellen Lektüre, las vor, kommentierte, las weiter vor, die Kerzen brannten herunter, als er das Buch zur Seite legte und meinte: „ich merke, dass ich nicht beschreiben kann, was mich beim Lesen so trifft“ – kurios, dass es mir beim Entzünden der Kerzen haargenau gleich ergangen war, als ich ihm vergeblich nahezubringen versuchte, was mir bei Tagesanbruch in der Stille geschehen war
Tiere können den Abend nicht so verbringen, und doch bleibt auch für uns das Wort bloß eine Krücke für die Fülle der Wirklichkeit, die weit über Sprache hinaus blitzt in immer neuem Versuchen und Scheitern, das kostbare einzige Land zu sichten – und wenn du mir davon erzählen magst, von deinem Suchen und deinem Tag, dann warten hier bereits Kerzen auf dich, und wenn du magst, auch schwarzer Tee
Aus: “Kontakt - Gedichte und Kladden”. Echter (2021) S. 100
Reisesegen
Reise durchs Leben
Geschenk mit dem roten Faden
Auspackhelferin die Stille
für die Schnipselspuren
die alle irgendwie zählen
…
frui trinu — genieß deine Reise
sie ist nur dir anvertraut
siehst du die Spur
dort vorne in dir
aufwärts schimmern?
Aus: “Kontakt - Gedichte und Kladden”. Echter (2021) S. 107
drei arten sicht
bodenblick
wie ich mich auch drehe
nehme ich schatten mit
aufblick
wer kann direkt
in die sonne blicken?
horizontschau
dazwischen wächst
schrittwärts mein weg
Aus: “Mit dem, was wir haben”. Echter (2023) S. 19
lied der tulpe
als wüsste sie schon
dass gelingen kann
was auf sie zukommt
taucht ihr kopf auf
zerbrechlichem hals
vom schattengrund
höher ins frische licht
ganz als wäre verlass
auf die alte verheißung
im wachsen die eigene
stimme zu finden
Aus: “Mit dem, was wir haben”. Echter (2023) S. 23
in wellen
die wünsche, sie kommen in wellen
aus dem halbdunkel steigen sie auf und wachsen,
bis ich meine, ohne ihre erfüllung nicht mehr
wirklich leben zu können
die wirklichkeit kommt auch in wellen
sie ist älter als wir und bewohnt schon lange
vor mir den strand und die sonne und die
sammlung der spuren im wind
sie hinterfragt meine wunschburgen aus
sand, kommt wuchtig wie stahl und lauwarm
wie blut und ohne mich vorher zu fragen
nur sie lässt ein vertrauen wachsen
in mehr, als ich bisher kenne
Aus: “Mit dem, was wir haben”. Echter (2023) S. 32
blick auf die welt
ein fenster ist ein loch
in der wand
um natur stadt und sterne
als nachbarn zu rahmen
ein fenster ist ein ausschnitt
im hauskleid nach innen
ein fenster ist auch
der glaube
Aus: “Mit dem, was wir haben”. Echter (2023) S. 35
Werke und Lesungen
Kontakt - Gedichte und Kladden
Echter Verlag GmbH, Würzburg (Sept 2021) ISBN 978-3-429-05684-1
Mit dem, was wir haben
Echter Verlag GmbH, Würzburg (März 2023) ISBN 978-3-429-05875-3
Oltener Literaturtage 2021 (Lesung aus “Kontakt - Gedichte und Kladden”)
Lesung mit Musik 2022 (Geistlich-Diakonisches Zentrum Riehen)
Oltener Literaturtage 2023 (Lesung aus “Mit dem, was wir haben”)
Lesung mit Musik 2024 (30. Jubiläum Klosterbuchhandlung Olten, 31.8.24)
Lesungen 2025
Kloster St. Urban, Reihe Lyrik im Kloster, 7.2.25
Klosterbuchhandlung Olten, “Experiment Stille”, 21.6.25 10 Uhr
Interview
https://www.kath.ch/newsd/barbara-dietz-stilli-schreiben-ist-fuer-mich-eine-art-hoeren-wie-im-gebet/
Aktuelle Projekte
Experiment Stille. Impulse und Gedichte (März 2025)
Bis du deinen Namen hörst. Gedichte und Kladden (2026)